Michael Schmidt: Der Himmel wird sprechen

Die Welt der Post-Wahrheit

Ken Wilber hat diesen Begriff in einer Analyse der Bewusstseinswirkung der ersten Trump Regierungsperiode geprägt. Diese Welt nach einer gesellschaftlichen Konstruktion von Wahrheit, die in Wissenschaftsdefinitionen ebenso geankert ist wie in dem Wertesystem fortgeschrittener demokratischer nationaler und internationaler Willensbildung – diese Welt zerfällt gerade in eine Konstruktion digitaler Diffusion. Wie in einem therapeutischen Prozess der Seele ist zunächst verwirrende Diffusion nötig damit anstelle der festgefahrenen Muster aus Traumata und invadierenden Überzeugungen eine heilsame Integration und Neubesinnung möglich wird.

Durch die digitalen Algorithmen der sozialen Medien werden gerade gesellschaftliche Spaltungsprozesse angestoßen, die wir seit einiger Zeit global und transkulturell beobachten können. Was als Integrität sozialer Willensbildung galt, als Ideal demokratischer und weltethischer Prozesse ist schon lange unterlaufen, bevor diese Utopie für den Großteil der Nationalstaaten Wirklichkeit werden konnte. Diese paradoxe und anachronistisch – regressive Tendenz illustrieren die Wahlen des amerikanischen, des brasilianischen, des ungarischen, russischen, polnischen, venezolanischen…..Präsidenten mit all den tragikomischen Auswüchsigen populistischer Machtstrategien.

Der digitalen Ökonomisierung der Märkte (vor allem durch sublime Werbung, Datenverkauf und Digital Enhancment von Spekulations- wie auch von Verwertungsprozessen) ist kein Kraut mehr gewachsen: wir sind schon fremdgesteuert, ohne dass wir es bemerken. Ein ebenso sublimer Kulturwandel findet statt und die Corona Pandemie gießt auf der biologischen Ebene weiter Öl ins Feuer. Karl Marx brachte im Kapital 1 es schon für den industriellen Kapitalismus und das Bewusstsein der Lohnarbeiter und der Kapitalisten auf den Punkt: „Sie wissen es nicht, aber sie tun es“. Das was schon in der Undurchsichtigkeit der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer „Mystifikationen“ für das Bewusstsein der Menschen angelegt war, erscheint jetzt auf einer neuen Stufe durch den digitalen Kapitalismus (Precht 2020) an der Oberfläche.

Die digitale Konstruktion von Wirklichkeit durch Facebook, Instagram, Twitter, Google, YouTube u.a. fördert durch die Parzellierung und Diversifikation von Meinungszirkeln, durch die Zersplitterung einer intersubjektiv gültigen Verankerung in gemeinschaftlichen Werten eine Welt von Desinformation. Was die Informationsgesellschaft durch die Beschleunigung, Verdichtung und exponentielles Wachstum von Daten visionär als Fortschritt menschlicher Vernetzung predigte, geriert jetzt zu einer gleichgültigen Vermassung von Desinformation.

Der Einzelne sucht in der Masse der digital wirkenden „Influencer“, die Wahrheiten genauso wie Waren verkaufen, Orientierung und die digitale Welt bietet ihm an, was er zur Orientierung, zur Konsumtion oder zu seiner eigenen Verwertung zu brauchen scheint. Netflix bietet uns nicht „alle möglichen Filme an, sondern ein auf den „User“ abgestimmtes Potpourri, das wiederum sein Konsumtionsverhalten steuert. Dies führt zur von Algorithmen gesteuerten Besonderung der Menschen und zu spaltend und dissoziierend wirkenden gesellschaftlichen Prozessen. Der Bürgerkrieg liegt in der Luft und nicht Integration, sondern Spaltung und Hass werden sich ausbreiten.

Ist dies zu negativ gesehen? Ohne das Negative zu durchdringen und ganz ins Bewusstsein zu lassen, wird es auch keine positive Entwicklung gegen können – das ist Gesetz in der dualistischen Welt. Die Daoistische Philosophie hat es kurz und knapp formuliert: „Wo ein Rückschritt ist, ist auch ein Fortschritt“ (Cooper 1993)

Das Fortschreiten in die Wahrhaftigkeit

Keiner kann einfach mehr auf seiner Meinung bestehen. Jeder hat recht. Alles wird zur Perspektivität, die nur auf ein Ganzes bezogen sinnhaft wird. Nicht der Streit, die Konkurrenz, der Kampf um Kommunion, um die gesunde Lösung für alle und das Ganze wird der nächste kollektive Schritt ins Über – Leben der Menschheit sein.

Ohne die Wahrnehmung und das Lauschen des Rauschens der Quelle sind wir Verlorene, die dahintreiben im digitalen Strom der Zeit. Der Weg zur Quelle ist zuallererst die eigene Körperwahrnehmung! Da der Körper nicht lügen kann wird eine Verfeinerung unseres Körperbewusstsein uns den Weg zur Wahrheit weisen. Die Quelle fließt…das ist ihr Geschäft. Sind wir bereit zu surfen? Die nächste Welle kommt bestimmt! Also atme und höre auf Deinen Puls dann erhören und erforschen unsere Gedanken schon das Ganze.

Von diesem Impuls angestoßen werden Menschen sich als Ganzheit begreifen lernen und sich verstehen wie ein Körper, an dem jedes Organ, jeder Teil wichtig für das Ganze ist. Wenn etwas exazerbiert, die gesunde Struktur verlassen will, dann werden treten kollektive Reparaturmechanismen aktiv, die zum Wohle des Ganzen den Menschheitskörper wieder ins Gleichgewicht bringen. Der Fortschritt der demokratischen Willensbildung wird gegen Meinungsapologeten antreten, die aus den verletzten und verlorenen Seelen einer großen Masse Profit zu schlagen suchen. Doch wie an der Wahl des amerikanischen Volkes sichtbar ist ein gespaltener, dissoziierter Volkskörper zu heilen, der sich mit sich selbst versöhnen muss. Sich auseinandersetzen muss mit einer Masse von meist verarmten Menschen, die aus dem gesellschaftlichen Produktionsprozess und aus dem soziokulturellen Steuerungsprozess rauszufallen drohen. Die Geschichte kann uns an vielen Beispielen zeigen, dass Krieg und Bürgerkrieg genau darauf beruht, dass die antagonistischen Parteien meist über nichts anderes verfügen als das Recht des Stärkeren. Dieses Recht des Stärkeren hat zwar Sublimation durch die Konzepte des freien Markts gefunden, doch ein Blick auf  die Börse und die Aktivitäten der Hedge Fonds zeigen, das eine egozentrische Ignoranz der Konsequenzen des eigenen Handelns für das Ganze zur Grundlage der Partizipation am gesellschaftlichen Reichtum geworden ist. Die Mystifikation der freien und gleichen Individuen ist dem Kapitalismus von Beginn an inhärent und verdeckt, die schmerzhaften wahren Widersprüche, statt sie demütig zu integrieren.

Der Fortschritt, der im gegenwärtigen Zeitgeist angelegt ist besteht einerseits aus grundlegender gegenseitiger Anerkennung unterschiedlicher Sichtweisen und dem Sich – Zumuten in einem integrativen Geist (Kants kategorischer Imperativ). Andererseits kommt diese fortschrittliche Entwicklung nicht ohne einen Begriff, eine Definition des Ganzen und dessen Wertedynamik aus, die in dem Ganzen verborgen ist. Somit steht das Ganze für eine spirituelle, philosophische Dimension, die eine transreligiöse Ethik zur Grundlage einer Weltgemeinschaft macht und als Handlungsgrundlage transnationalen, interkulturellen, gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Handelns dient.  Zhao Ting nennt diesen Schritt der Überwindung imperialistischer Dominanz und deren Ideologischen Rechtfertigungen „Inklusion“. (Zhao Ting, Alles unter dem Himmel, 2020).

Zu dieser Überwindung ideologischer Rechtfertigungen gehört auch die dem globalen Kapitalismus inhärente soziale Ungerechtigkeit und Ungleichverteilung an materiellen Mitteln. (siehe…) Und jetzt in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts geht die sogenannt soziale Schere zunehmend auseinander, d.h. die Reichen werden reicher und die Armen werden ärmer.

Scharfes Werkzeug

Schneiden ist ein ungeheuer kraftvoller Vollzug, der das Eine in Zwei teilt, oder es ermöglicht etwas abzutrennen. Bei dem Werkzeug der Schere ist es ganz klar: wollen wir etwas schneiden, muss die Schere geöffnet werden und die Scherblätter auseinandergehen, um schließlich mit der Wucht der Bewegung das was zu schneiden ist, zu durchtrennen. Die soziale Schere ist eine symbolisch trächtige Analogie für das Auseinanderdriften sozialer Schichten in einer Gesellschaft. Dies wiederum ist Ergebnis widersprüchlicher sozialer und politischer Prozesse, die Polarität statt Einheit verursachen. Geht die soziale Schere auseinander dann ist dieser gesellschaftliche Bewegungsprozess mit Turbulenzen, Reibungen und Spannungen verbunden, die sich bis zum Bürgerkrieg (Klassenkampf) entwickeln können. Demokratische Prozesse der Partizipation am gesellschaftlichen Reichtum sind korrumpiert und es entwickeln sich gegensätzlichen Meinungen, Haltungen, Einstellungen und widersprüchliche ökonomische Prozesse, die – je mehr die Schere auseinanderdriftet – sich unversöhnlich gegenüberstehen.

Sowohl auf der exekutiven, legislativen und auf der judikativen Ebene kosten dieses Triften in die Extremität ebenso viel Energie wie auf der persönlichen, subjektiven und emotionalen Ebene. Es wundert daher nicht, dass der Happy Planet Index (der von der „New economics foundation“, einem britischen Think tank entwickelt wurde und als alternativer Messindex zum BPI gilt,) eindeutig zeigen kann, dass die soziale Ungleichheit ein wesentlicher Faktor gesellschaftlicher Zufriedenheit ist. Die gegenwärtig global zu verzeichnende Tendenz der Zunahme von Ungerechtigkeit und sozialer Ungleichheit markiert energetisch gesehen, dass die nahe Zukunft auf einen Wandlungspunkt zulaufen wird, in dem  die Schere in eine schließende Bewegung umkippen wird und all der Druck dieser Bewegung in neue globale Einigungsprozesse hineinführen wird. Das ist das Spiel von Yin und Yang, das Spiel der Gegensätze, das Kippschwingungsprinzip, das was oben ist nach unten bringt und umgekehrt. Diese homöostatische Bewegung, die uns global bevorsteht, ist gleichbedeutend mit einem globalen Wertewandel, in dem wir als Menschheit endlich kollektiv das Verbindende in der Unterschiedlichkeit wahrnehmen und würdigen können und auf der Ebene von Ökonomie und Ökologie ganzheitlich und nicht mehr analytisch denken. Glück und Freiheit werden damit konnotiert sein, dass alle gewinnen oder alle gemeinsam verlieren. Wir werden z.B. für den Verlust der Diversität unserer natürlichen Umgebung ebenso einen gemeinsamen Preis zahlen, wie für die menschenverursachte Erderwärmung oder das Leid für die soziale Verelendung ganzer Gesellschaften. Wir werden es gemeinsam fühlen und den Schmerz gemeinsam mit den folgenden Generationen fühlen. Wir dürfen es fühlen und durch uns innerlich bewegen, das ist der gemeinsame Gewinn, der uns blüht.

 Ja die Schere ist ein scharfes Werkzeug, dessen wir uns gerade bedienen. Daher heißt es wach bleiben für grundlegende gegenseitige Unterstützung, damit wir ein Teil der Wucht und der Kraft der Bewegung werden, wenn sich die Schere schließt, Und dieser Sprung in diese Bewegung ist jetzt und findet in unseren Herzen statt. Dieses Gefühl nennen wir Mitgefühl, Compassion und beginnt sein warmes Strömen direkt und gleich in der Verbindung zu mir, zu dir und zum Ganzen des Wir – zu Allen und Allem unter dem Himmel.

Der Himmel spricht

Dass der Himmel spricht ist ja keine Neuigkeit und seit Beginn philosophischen und religiösen Denkens ein Fokus kosmologischen Denkens ebenso wie ein durchdringender Aspekt von Erkenntnistheorie. (vgl. Sloterdijk, 2020) Wir dürfen uns in hervorgehobener philosophischer Begleitung wissen, wenn wir nach oben in die Weite schauen, durchdrungen von all den Bildern über Götter und Göttinnen oder Bilder von dem Einen, oder dem Einen von dem kein Bild erlaubt sein kann, da kein Bild ihn abbilden kann. Jetzt ist die Zeit gekommen, dass wir als Gattung Homo sapiens erectus Deus die Essenz durch alles hindurch gewirkt erfahren dürfen und gleichzeitig in einer immensen kollektiven Konfrontation mit der Endlichkeit unseres weltlichen Wirkens.

Die Natur kennt keine soziale oder physische Schere, denn selbst das Getrennte oder Abgetrennte bleibt im großen Kreislauf immer mit dem Ganzen verbunden.  So zeigt sich in der Kirlian Fotographie, dass ein abgetrenntes Glied oder Blatt energetisch im Hochfrequenzfeld morphogenetisch verbunden bleibt. Wie tröstlich für uns auf der menschlichen Beziehungsebene: selbst mit all unseren getrennten Lebens- und Liebespartner*innen bleiben wir verbunden, wenn wir bereit sind aus der höheren himmlischen Perspektive zu schauen wo nur Vergebung der Blickwinkel ist, aus dem geschaut werden kann.  Nichts erscheint umsonst oder verloren. Gerade diese Evidenz ewiger Zugehörigkeit scheint mit unserer menschlichen Glückserfahrung so eng verwoben: der Happy Planet Index weist es quasi taxonomisch aus: da wo die Schere nicht auseinandergeht und die Natur die gebührende Wertschätzung erfährt und die Projektion der Angst nicht fixiert wird – da erscheint das Glück als eine gemeinschaftliche Erfahrung.

Es scheint als würden die sozialen Divergenzen um so größer je enger die innere Erfahrungswelt gestrickt wird. Es kann als Ausdruck unseres menschlichen Reichtums gelten, wenn wir in Bezug auf unsere Bedürfnisse und Bedürftigkeit Raum und Autonomie erleben können. Wer hat nicht mal einen Gegenstand oder etwas persönlich Geliebtes oder Wertvolles verloren und den Schmerz der Anhänglichkeit und Anhaftung erfahren, der mit der inneren und äußeren Verbindung zu diesem Objekt verknüpft ist. Doch gerade in diesem Augenblick entscheidet sich, welche Welt ich gerade sozial und intersubjektiv und intrapersonal kreiere. Bin ich bereit in einem Verlust auch einen Gewinn zuzulassen – in diesem Augenblick erfahre ich natürlichen Reichtum und existentielle Erfüllung. Alexis Zorbau – the Buddha zeigt uns, wenn alles zusammenbricht sanft diese Fähigkeit zum Loslassen. Wie die durchdringende Kraft des Kreuzweges, der von jeglicher Anhaftung befreiend den Tod am Kreuz bis in die Auferstehung führt. Die Himmelfahrt bringt die entscheidende Perspektive und den Heiligen Geist in die inneren Stimmen, die unterschiedlicher nicht sein können und doch verstanden werden und erhört sind.

Und diese Fähigkeit des Menschen dem Himmel zu lauschen wohnt – wie die Herz Jesu Bewegung schon von Beginn an entdeckt hat – in unserem Herzen und unserem Herz - Raum. Nur hier ist Raum genug für das Ganze, das durch den Himmel spricht.

Dschamal ad-Dīn Muhammad Rūmī, der Sufi Meister bringt es auf den Punkt:

„Nur aus dem Herzen kannst Du den Himmel berühren“